Kontroverse documenta fifteen – Hintergründe, Einordnungen und Analysen

Kontroverse documenta fifteen – Hintergründe, Einordnungen und Analysen

Organisatoren
Martin Köttering, Hochschule für bildende Künste Hamburg
Ort
Hamburg
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
01.02.2023 - 02.02.2023
Von
Alexander Kraus, Institut für Zeitgeschichte und Stadtpräsentation (IZS), Stadt Wolfsburg

Wohl kaum ein kulturelles Großereignis führte im vergangenen Jahr zu vergleichbar kontrovers wie heftig geführten Debatten wie die documenta fifteen. Der Eklat um Kunstwerke mit antisemitischer Bildsprache auf der renommierten zeitgenössischen Kunstausstellung löste nicht nur in Kassel ein politisches Beben aus, sondern auch im Bundestag, in dem mit einem Mal über die Freiheit der Kunst, kuratorische Verantwortung und „die öffentliche Zurschaustellung von Antisemitismus und Nähe zur Israel-Boykott-Bewegung BDS“ debattiert wurde.1

Erwartbar heftige Reaktionen zeitigte im Oktober 2022 die Ankündigung der Hamburger Hochschule für bildende Künste (HfbK), zwei der verantwortlichen Kuratoren des Künstlerkollektivs ruangrupa, Reza Afisina und Iswanto Hartono, mit einer geteilten einjährigen Gastprofessur auszustatten. Die bereits ein halbes Jahr vor der documenta-Eröffnung bewilligte und vom DAAD finanzierte Gastprofessur sollte, wie durch das Präsidium der Hochschule kommuniziert, einen Rahmen schaffen, in dem einerseits die auf der documenta fifteen aufgeworfenen Strategien und kuratorischen Konzepte hinterfragt und reflektiert, andererseits der Antisemitismus im Kunstfeld adressiert werden sollten. Zentrales Element dieses selbstformulierten Anspruchs war dieses Symposium.2

Sinnbildlich für die Brisanz der Veranstaltung stehen Äußerungen des Hamburger Antisemitismusbeauftragten Stefan Hensel, der im Vorfeld jedwedes Angebot zum Dialog öffentlichkeitswirksam ausschlug und dem Präsidenten der HfbK Martin Köttering vorwarf, er würde durch die Aufrechterhaltung der Gastprofessur dazu beitragen, „dass Antisemitismus legitimiert“ werde.3 Schließlich sei die documenta unter ruangrupas kuratorischer Arbeit zu einer „Antisemitismusschau mutiert“, wobei Hensel gänzlich ignorierte, dass etwa 99 Prozent der auf der Weltkunstschau gezeigten Arbeiten ein komplett anderes Themenspektrum bearbeiteten. Zugleich verstieg er sich zu der Aussage, die „jüdischen Protagonisten“ des Symposiums – darunter so namhafte Wissenschaftler:innen wie der emeritierte Soziologieprofessor Natan Sznaider, die HfbK-Professorin Nora Sternfeld oder der Direktor der Bildungsstätte Anne Frank, Meron Mendel, – „agier[t]en weit entfernt von unserer jüdischen Realität und jüdischen Institutionen“4, um ihre Teilnahme zu diskreditieren. Am Eröffnungsabend des Symposiums war Hensel allerdings vor Ort, um sich von der Bild-Zeitung vor dem Haupteingang der HfbK interviewen zu lassen, betrat jedoch – im Gegensatz zu vielen anderen kritischen Stimmen aus den jüdischen Communities Hamburgs, Kassels und Berlins – das Hochschulgebäude nicht.

Die aufgeladene Atmosphäre zeigte sich dann auch gleich zu Beginn der Veranstaltung, die durch einen Impuls der Wissenschaftssenatorin KATHARINA FEGEBANK (Hamburg) eröffnet wurde. So beschrieb sie die für sie politisch wie emotional schwierige Konstellation als „vermeintlich unauflösbares Spannungsfeld“. Sie, die stets „klare Kante gegen Antisemitismus“ gezeigt habe, sei wiederholt dazu aufgefordert worden, etwas gegen die Gastprofessur zu unternehmen, zugleich sei aber von anderer Seite der Appell an sie herangetragen worden, für die Wissenschaftsfreiheit einzustehen. Doch betonte sie, als Gesellschaft könnten wir allein dann gewinnen, „wenn wir miteinander ins Gespräch kommen und Verantwortung füreinander übernehmen“. Und nun endlich „reden wir“.

Auf der documenta seien ohne Zweifel Kunstwerke mit antisemitischen Inhalten ausgestellt worden, stellte wiederum MARTIN KÖTTERING (Hamburg) heraus: Manche von ihnen ließen sich „über den historischen Kontext nachvollziehen, andere nur bedingt“. Entsprechend unmissverständlich äußerte er sein Verständnis für den vielstimmigen Chor der Kritiker:innen seitens Politik, Presse, Publikum und insbesondere der jüdischen Gemeinden. Ihre Kritik „war nicht nur legitim, sie war zwingend notwendig“. Auch daher stünde allen Teilnehmenden des Symposiums eine „Gratwanderung“ bevor, könne doch alles, was im Laufe der kommenden Tage als Erklärung formuliert werde, „als Verharmlosung interpretiert“ werden. Doch ohne die Bereitschaft zum Dialog, zum akademischen Diskurs werde es eben nicht gehen. Und dieses „miteinander reden über das, was auf dieser so wichtigen Weltkunstausstellung passiert ist“, schien in den letzten Monaten „ein Ding der Unmöglichkeit zu sein“. Den gesellschaftlichen Debatten und der Kontroverse, die die documenta fifteen ausgelöst habe, könnten wir jedoch nicht ausweichen. Es gelte, die Versuche einer Einordnung zu ertragen.

Bezeichnenderweise eröffnete der an der Akademischen Hochschule in Tel Aviv lehrende Soziologe NATAN SZNAIDER (Tel Aviv) seine Keynote dann auch bewusst nicht mit der standardisierten Floskel, er freue sich, die Konferenz eröffnen zu dürfen, denn er freue sich eben nicht. Er habe im Vorfeld regelrecht „Stress“ gehabt, so viele Stimmen hätten ihn teils massiv von einer Teilnahme abhalten wollen. Es sei jedoch gut, da zu sein, denn „es geht um was, deswegen geht es hoch her, und deswegen sind wir auch so leidenschaftlich“. In seinem Vortrag plädierte er mit Nachdruck dafür, sich in „Ambiguitätstoleranz“ zu üben. Dabei übertrug er den von der 1938 in die USA emigrierten jüdischen Psychologin Else Frenkel-Brunswick in den 1940er-Jahren entwickelten Begriff aus der Psychoanalyse auf „gegenwärtige soziale und kulturelle Prozesse der Globalisierung“, mit denen ein „Auseinanderbrechen [der] Einheit und Homogenität von Raum, Zeit und Bevölkerung“ einhergehe. Gleichzeitig könne jedoch nicht von einem sich parallel vollziehenden „Ende“ der kollektiven Erinnerung gesprochen werden. Aus eben dieser Konstellation rühre die Komplexität der gegenwärtigen Debatte her: Es sei nicht mehr klar, wer für wen spreche, wer das Recht zu intervenieren habe. Und das gelte es auszuhalten. Sznaider konkretisierte: Für all jene, die meinten, das Leben müsse einfach sein, stelle seine Forderung nach praktizierter Ambiguitätstoleranz „eine Provokation“ dar.

Mit Blick auf die documenta fifteen – für ihn der „Inbegriff der Ambiguität“ – müssten wir uns bewusst machen, dass für das Kuratorenkollektiv andere Anliegen als die deutsche Geschichte eine Rolle gespielt haben: die Idee der Kollektivität, eine gerechte Verteilung der Ressourcen und vieles mehr. Es sei der präsentierten Kunst vielfach darum gegangen, einem guten Zweck zu dienen – womit sie sich jedoch außerhalb der Kunstfreiheit bewegt habe. Just das hätten die Kurator:innen und Künstler:innen entsprechend deutlich formulieren müssen, was er am Beispiel der vom Kollektiv Archives des luttes des femmes en Algérie archivierten und präsentierten politischen Plakate aufzeigte. Eine der Zeichnungen zeigte einen „hässlichen Soldaten mit Hakennase, mit Helm und Davidstern, dem von einer tapferen Kämpferin zwischen die Beine getreten wird“. Für ihn handelte es sich zweifelsohne um eine antisemitische Darstellung, weshalb ihm die abwehrende Reaktion des verantwortlichen Kollektivs, das durch ruangrupa gedeckt worden sei, nicht schlüssig erschien. Schon anhand dieses Beispiels verdeutlichte er: Kunst kann nicht für sich selbst sprechen; ihr liegen Zwei- und Mehrdeutigkeiten inne – und diese Ambiguität gelte es auszuhalten. Daher könne es in der Debatte auch nicht um das bloße Rechtbehalten gehen.

Wurde im ersten Panel noch vergleichsweise moderat miteinander gerungen und diskutiert, kochten die Emotionen während des Gesprächs documenta fifteen aus indonesischer Perspektive wiederholt hoch und bisweilen über, bis hin zu regelrecht tribunalartigen Einlassungen seitens des Publikums. Mit REZA AFISINA (Kassel/Jakarta) saß einer der verantwortlichen Kuratoren auf dem Podium, mit HESTU A. NUGROHO (Berlin/Yogyakarta) ein Gründungsmitglied des indonesischen Künstlerkollektivs Taring Padi, das für das skandalträchtige acht mal zwölf Meter große Banner „People’s Justice“ verantwortlich zeichnete. Auf dem großflächigen agitprophaften Banner ist innerhalb einer Soldatengruppe, deren Helme die Kürzel von Geheimdiensten tragen, auch ein Soldat abgebildet, der ein Halstuch mit einem Davidstern trägt und mit einer Nase versehen ist, die einer Schweinenase gleicht. Sein Helm ist mit „Mossad“ beschriftet. Eine zweite Person im Anzug ist mit Schläfenlocken, Reißzähnen und einem Bowlerhut dargestellt, auf dem SS-Runen prangen. Moderiert wurde das Gespräch von der Kulturwissenschaftlerin KATE BROWN (Berlin) von Artnet News, die mit ihren Fragen an zahlreichen kritischen Punkten rührte, so beispielsweise an den langwierigen Entscheidungsprozess, sich als Kollektiv in der Debatte zu positionieren.

Das deutlich als Protestkunst zu lesende Werk „People’s Justice“ inszeniert, wie die Künstlergruppe bereits im Juni 2022 in einem Statement erläuterte, die „inneren und äußeren Machtverhältnisse“ der Menschenrechtsverbrechen der Suharto-Diktatur in Indonesien, die unter anderem von einer Vielzahl westlicher Länder und deren Geheimdiensten unterstützt wurde, „in einer bildhaften Szene“. Sie hätten versucht, „die komplexen historischen Umstände durch eine Bildsprache einzufangen, die ebenso verstörend ist wie die Realität der Gewalt selbst“. Ihr Statement eröffneten sie seinerzeit mit einer umfassenden Entschuldigung, in der sie unmissverständlich für ihren Fehler einstanden und den Versuch einer Selbsterklärung boten, die hier aufgrund ihrer Bedeutung ausführlich wiedergegeben werden soll: „Wir bedauern zutiefst, in welchem Ausmaß die Bildsprache unserer Arbeit People’s Justice so viele Menschen beleidigt hat. Wir entschuldigen uns bei allen Zuschauer:innen und Mitarbeiter:innen der documenta fifteen, der Öffentlichkeit in Deutschland und insbesondere der jüdischen Gemeinde. […] Wir bedauern, dass wir eine mögliche Beteiligung der Regierung des Staates Israel [an der Unterstützung des Suharto-Regimes Anm. d. Verf.] so völlig unangemessen dargestellt haben – und entschuldigen uns aufrichtig dafür. Antisemitismus hat weder in unseren Gefühlen noch in unseren Gedanken einen Platz.“5 Wie sehr die politische Kunst Taring Padis für ein friedliches Miteinander der Vielzahl der in Indonesien lebenden Ethnien und Religionen einsteht, zeigte sich auch in Kassel in Werken, die beispielsweise im dortigen Hallenbad Ost ausgestellt waren.6

Es hätte demnach innerhalb des Symposiumgesprächs durchaus um die Grenzen des kollektiven Ansatzes des kuratorischen Konzepts, um blinde Flecken gehen können und wohl auch sollen, um Fragen, warum die antisemitischen Elemente nicht im Vorfeld als solche erkannt worden sind und wie sie überhaupt ihren Weg auf das fragliche Kunstwerk gefunden haben. Catherine David, die Kuratorin der documenta 10, hatte in einem Interview präzise beschrieben, weshalb sie ihrerzeit allein westliche Künstler:innen gezeigt habe: „Um die Arbeit von Künstlern zu würdigen, muss sie verbunden werden können mit der Geschichte des Ortes, wo sie entstanden ist.“7 Mit anderen Worten: Es hätte während des Symposiums um gegenseitiges Verstehen und Zuhören gehen können, nachdem sich auch ruangrupa wiederholt öffentlich entschuldigt und den Verdacht, antisemitischem Gedankengut anzuhängen, vehement von sich gewiesen haben. In der Aula der Hochschule war ein Teil des Publikums offenkundig nicht an einem Dialog interessiert – das Missverstehen, so hatte es den Anschein, war vielmehr gewollt.

Reza Afisina bekannte beispielsweise eingangs des Gesprächs offen, sie, ruangrupa, hätten die Symbole, die in Deutschland sofort als unzweifelhaft antisemitisch erkannt worden waren, in Indonesien nicht als das erkannt, was sie sind. Als er ergänzte, „I learned it in the German context“, brandete die Woge des Unverständnisses auf. Die Symbolik, so hieß es in Beiträgen aus dem Publikum, sei nicht allein in Deutschland antisemitisch, sondern überall auf der Welt. Sichtlich irritiert stimmte dem auch Afisina zu, der doch letztlich lediglich zum Ausdruck hatte bringen wollen, dies erst in Deutschland gelernt zu haben, im Kontext seiner Arbeit in Kassel. Den Vorwurf, sie hätten stets zu zögerlich agiert, das Kollektiv sei seiner kuratorischen Verantwortung nicht gerecht geworden, hatte NORA STERNFELD (Hamburg) schon am Abend zuvor zu entkräften versucht: Sie habe am Abend der Bannerinstallation und der damit einhergehenden Entdeckung der antisemitischen Bildelemente mit Mitgliedern von ruangrupa beisammengesessen und sofort die Überlegung geteilt, das Banner mit einer gemeinsamen Entschuldigung abzuhängen. Allein, dieser glaubwürdige Schritt wurde dem Kollektiv von der documenta-Leitung schlichtweg nicht gestattet. Aber auch solche Erklärungen verfingen in Teilen des Publikums nicht.

Auch Hestu Nugroho, der als Vertreter des Kollektivs für Bildelemente angegriffen wurde, deren Autorschaft nicht bei ihm liegt, wurde immer wieder aufgefordert, sich zu seiner antisemitischen Haltung zu bekennen, nur um nach einer weiteren Entschuldigung damit konfrontiert zu werden, eine solche reiche nicht aus. Dennoch versuchte er den kollektiven Entstehungsprozess am Beispiel von „People’s Justice“ anhand von dokumentarischen Fotografien aufzuzeigen und machte deutlich, dass mitunter Menschen mitarbeiteten, die nicht Teil des Kollektivs sind, weil es um Partizipation, um Gemeinschaft gehe. Dies sei gewollt und intendiert. Er verwies auf unterschiedliche Bildtraditionen und Lesarten – so sei weder in China noch in Australien, wo das Banner auch schon ausgestellt worden sei, die Zeichensprache als antisemitisch gelesen worden. Nugroho machte darüber hinaus deutlich, er sei sich nicht einmal so sicher, ob mit den dargestellten Personen wirklich Juden gemeint waren oder eine modern interpretierte Dämonenfigur im balinesisch-javanischen Stil, aber er stellte die antisemitische Lesart nicht infrage. Darüber hinaus zeigte er weitere in Kassel ausgestellte Werke von Taring Padi, auf denen die Weltreligionen als Einheit präsentiert werden, um zu verdeutlichen, wie das Kollektiv für die Toleranz gegenüber unterschiedlichen Glaubensrichtungen einstünde – dies ist umso bemerkenswerter, als das Judentum in Indonesien keine offizielle Anerkennung als Religionsgemeinschaft gefunden hat. Ein Teil des Publikums war jedoch nicht gewillt zuzuhören. Sichtlich unwohl angesichts der aggressiven Stimmung – „schickt sie nach Hause“, tönte es beispielsweise aus dem Publikum –, nahm Nugroho im Publikumsgespräch immer wieder die Hilfe der Dolmetscherin in Anspruch. Sein Anliegen, zu erläutern, wie die beiden Motive auf das Banner gelangen konnten, blieb ungehört.

Wie eindimensional das Gespräch teils verstanden wurde, zeigt die Pressemitteilung der CDU-Bürgerschaftsfraktion, die am Tag nach dem Symposium verschickt worden ist. Darin heißt es, „an den Überzeugungen der beiden Künstler“ des Podiums habe sich „nichts geändert“, seitens der beiden Gastprofessoren (auch Hartono hatte sich im Verlauf der Debatte zu Wort gemeldet und war später auf einem Panel vertreten) sei „kein Zeichen eines Sinneswandels, keinerlei Einsicht und keinerlei Verstehen der Ungeheuerlichkeit des Gezeigten“ zu sehen gewesen, weshalb die wissenschaftspolitische Sprecherin der CDU-Fraktion Anke Frieling forderte, die Lehraufträge zu entziehen. Das ganze Symposium sei, wie es in der Überschrift der Erklärung heißt, „eine Farce“8.

Dass das Symposium alles andere als eine Farce war, machte schon das nächstfolgende Panel über Antisemitismus- und Postkolonialismusforschung deutlich, dessen Teilnehmer:innen sichtlich um eine ausgewogene Betrachtung, um Kontextualisierung und Selbstreflexion bemüht waren. Mit MICHAEL WILDT (Berlin) erklärte sogleich einer der führenden NS-Historiker Deutschlands, wie wichtig es sei, dass diese Diskussionen endlich geführt werden – ein solches Symposium hätte bereits in Kassel realisiert werden müssen. Im Verlauf der Diskussion zweifelte er die Eindeutigkeit der Bildsprache an: „Wir leben im Land der Täter, sind anders sozialisiert, wir erkennen sie als antisemitisch. Aber wer sind wir, das als global gegeben zu erkennen?“

MIRIAM RÜRUP (Potsdam) gab zu bedenken, wie sehr SS-Runen möglicherweise global als das „ultimativ Böse“ gelesen werden, ohne dass der Ursprungskontext bewusst ist. Daher müssten wir uns fragen, was es bedeute, „wenn antisemitische Codes nicht als solche gelesen werden können“. An solche Fragen seien weitere gekoppelt: Was müssen wir als Gesellschaft akzeptieren, und welche roten Linien definieren wir? Warum seien, so Rürup weiter, Darstellungen von „Judensäuen“ an deutschen Kirchen erst in den letzten Jahren zum Thema geworden – und noch immer sichtbar, ohne dass ein auch nur annähernd vergleichbarer Aufschrei erfolge? Es fänden sich zahlreiche Beispiele für antisemitische Kunstwerke, die in deutschen Museen ausgestellt sind, so in Dresden oder auch in Kassel, die nicht kontextualisiert sind, wurde aus dem Publikum ergänzt. Wir feiern die Wagnerfestspiele mit dem Wissen, dass Wagner ein glühender Antisemit gewesen ist, dessen antisemitisches Denken auch Niederschlag in seinem Werk gefunden habe – „warum bestehe da nicht dieselbe Sensibilität?“ Und habe das nicht doch etwas mit Rassismus zu tun? Woraufhin Rürup kommentierte, es sei eben „viel bequemer, sich mit dem Antisemitismus anderer zu beschäftigen als mit dem eigenen“. Letztlich verschleiere die Diskussion um die documenta fifteen die Debatte, die wir eigentlich führen müssten.

Dem stimmte auch JÜRGEN ZIMMERER (Hamburg) zu, der einwarf, er hätte nicht das Banner abgehängt, sondern die betreffenden Stellen verhängt, um dann darüber zu sprechen, warum der Antisemitismus in Indonesien nicht als solcher erkannt wird. Es habe viele verpasste Chancen gegeben. Zugleich ärgerte er sich darüber, wie sehr die Diskussion über den „Antisemitismus von außen geführt“ worden sei – der eigene Antisemitismus innerhalb der deutschen Gesellschaft aber keine Rolle gespielt habe. Warum sei etwa im Zuge des Wiederaufbaus des Berliner Stadtschlosses ein eindeutig dem rechtsradikalen Spektrum zugeordneter Spendername auf der Kuppel des Gebäudes nicht skandalisiert worden? „Darüber müssen wir diskutieren.“

Über die Bedeutung und Wichtigkeit des Symposiums, auf dem so viele entscheidende Fragestellungen von ausgewiesenen Expert:innen diskutiert wurden – von möglichen antisemitischen Traditionslinien der documenta seit 1955, geltenden Doppelstandards, die sich gegen den Staat Israel richten, der Problematik um die Boykottbewegung BDS, die Rolle der Medien, aber auch der künstlerisch-kuratorischen Errungenschaften der letzten documenta –, kann es keine zwei Meinungen geben. Endlich wurde mit- und nicht übereinander gesprochen, wenn auch zeitweilig in unangemessener Form. Das Symposium legte mit jedem Panel und Gespräch offen, wie notwendig ein Einüben in jener Fähigkeit ist, die Natan Sznaider zu Beginn der Tagung anmahnte: Ambiguitätstoleranz.

Konferenzübersicht:

Katharina Fegebank (Hamburg): Impuls

Martin Köttering (Hamburg): Einführung

Keynote

Natan Sznaider (Tel Aviv): Ambiguitätstoleranz auf dem Prüfstand. documenta fifteen und die jüdische Frage

Panel Antisemitismus im Kunstfeld. Geschichtspolitische Perspektiven auf die documenta

Moderation: Carsten Probst (Berlin)

Oliver Marchart (Wien), Meron Mendel (Frankfurt am Main), Julia Voss (Berlin)

Gespräch: documenta fifteen aus indonesischer Perspektive

Moderation: Kate Brown (Berlin) als Ersatz für Mi You (Kassel)

Reza Afisina (Kassel/Jakarta), Hestu A. Nugroho (Berlin/Yogyakarta)

Panel Antisemitismus- und Postkolonialismusforschung: eine (global-)geschichtliche Debatte

Moderation: René Aguigah (Berlin)

Michaela Melián (Hamburg), Miriam Rürup (Potsdam), Michael Wildt (Berlin), Jürgen Zimmerer (Hamburg)

Gespräch: Kulturproduktion zwischen Dialog, Kritik und Boykott

Moderation: Nora Sternfeld (Hamburg)

Doron Rabinovici (Wien), Natan Sznaider (Tel Aviv) als Ersatz für Saba-Nur Cheema (Frankfurt am Main)

Panel Kunst als soziale Praxis – Künstlerischer Paradigmenwechsel durch die documenta fifteen?

Moderation: Ralf Schlüter (Berlin)

Iswanto Hartono (Kassel/Jakarta), Gilly Karjevsky (Berlin/Hamburg) (per Statement), Nora Sternfeld (Hamburg), Margarita Tsomou (Berlin), Wolfgang Ullrich (Leipzig)

Anmerkungen:
1 Siehe dazu die Dokumentation zur „Debatte über Antisemitismus-Skandal bei der Documenta“, 7.7.2022, online abrufbar unter https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2022/kw27-de-documenta-900546 [12.2.2023].
2 Siehe dazu die Tagungsankündigung vom 16.1.2023, online abrufbar unter https://www.hsozkult.de/event/id/event-133018 [12.2.2023].
3 Christoph Twickel, Stefan Hensel: „Wir diskutieren nicht mit Leuten, die uns als Schweine darstellen“. Hamburgs Antisemitismusbeauftragter hält die Gastprofessuren zweier ruangrupa-Mitglieder an der Hochschule für bildende Künste für untragbar. Im Interview sagt er, warum, in: Zeit online, 16.1.2023, online abrufbar unter https://www.zeit.de/hamburg/2023-01/stefan-hensel-antisemitismus-ruangrupa-kunst [14.2.2023].
4 Stefan Hensel, Dialog? Nur ohne Juden, bitte, in: Jüdische Allgemeine vom 19.1.2023, S. 2. Siehe dazu auch Christoph Twickel, Meron Mendel und Stefan Hensel: „Wer sind Sie, zu entscheiden, was jüdischer Mainstream ist?“ Darf man sich als Jude weigern, mit Antisemiten zu reden? Ein Schlagabtausch anlässlich des Hamburger Symposiums über die Folgen der diesjährigen documenta, in: Zeit online, 3.2.2023, online abrufbar unter https://www.zeit.de/hamburg/2023-02/meron-mendel-stefan-hensel-documenta-symposium-hfbk [14.2.2023].
5 Statement von Taring Padi zum Abbau des Banners „People’s Justice“, 24.6.2022, online abrufbar unter https://documenta-fifteen.de/news/statement-von-taring-padi-zum-abbau-des-banners-peoples-justice/ [14.2.2023].
6 Vanessa von Gliszczynski, Taring Padi auf der documenta – Ein bildhafter Crashkurs in indonesischer Geschichte seit der Machtergreifung Suhartos 1965, in: Stiftung Asienhaus und Abt. für Südostasienwissenschaft der Universität Bonn (Hrsg.), Indonesien auf der documenta fifteen: Von der Kunst, in Dialog zu treten, Bonn 2022, S. 20-26.
7 Zum Potenzial kritischer Kunst. Catherine David im Gespräch mit Lars Bang Larsen und Dorothee Wierling, in: Raphael Gross u.a. (Hrsg.), documenta. Politik und Kunst, München 2021, S. 153-155, hier S. 155.
8 Frieling: Symposium an der HFBK eine Farce, online abrufbar unter https://cduhamburg.de/frieling-symposium-an-der-hfbk-eine-farce-keine-folgen-fuer-die-gastprofessoren-afisina-und-hartono-zu-erwarten/ [14.2.2023].